„Der Winter wird vermutlich wieder von Kältetoten geprägt“
Die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) befassen sich aktuell mit der Überlegung, Obdachlosen den Zugang zu U-Bahnhöfen im Winter nicht mehr zugänglich zu machen. Was ist davon zu halten und welche Lösungsansätze bietet der Berliner Senat? Im Gespräch mit Thomas Seerig (FDP), Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses.
In diesen Tagen wurde eine Meldung verbreitet, „Berliner Obdachlose dürfen im Winter nicht mehr in U-Bahnhöfen schlafen„. Unsere Nachfrage bei den Berliner Verkehrsbetrieben ergab, dass es sich bisher nicht um eine endgültige Entscheidung, sondern um eine Überlegung handelt. Angesichts des bisher nicht gelösten Problems weiter wachsender Zahlen von Obdachlosen in der Hauptstadt mit der im Winter bestehenden Gefahr des Erfrierens stellt sich die Frage, wie künftig mit dem Problem umgegangen werden soll.
Welche Lösungsansätze ergeben Sinn, gibt es diesbezüglich Pläne des Senats, die zeitnah umsetzbar sind und wie lässt sich die Gesellschaft deutlich stärker für dieses Problem sensibilisieren. Im Gespräch mit Thomas Seerig (FDP), Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses. Seerig ist unter anderem auch Mitglied im Ausschuss für Integration, Arbeit und Soziales sowie beratendes Mitglied im Ausschuss für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung.
Herr Seerig, die Schätzungen der Wohlfahrtsverbände gehen weit auseinander. Demnach soll es in der Hauptstadt rund 36.000 wohnungslose Menschen geben, davon leben schätzungsweise 4.000 bis 10.0000 Menschen obdachlos auf der Straße. Steht das Problem ganz oben auf der Agenda des Berliner Senats?
Das Thema ist für die Sozialsenatorin schon von Bedeutung und sie bemüht sich um Lösungen. Die Unterstützung aus anderen Verwaltungen und insbesondere aus den Bezirken könnte jedoch besser sein. Hier findet eher ein Abschieben der Probleme statt, als dass koordiniert gearbeitet wird und Frau Breitenbach und Herr von Dassel wollen zudem in ziemlich konträre Richtungen.
Dem Senat fehlt aber vor allem jede Konzeption, um die Probleme nicht nur zu verwalten, sondern zu lösen. Der direkteste Weg gegen Wohnungsnot ist bauen, bauen, bauen. Die Lompscher-Verwaltung setzt aber stattdessen auf Bürgerbeteiligung, Millieuschutz und Investorenfeindlichkeit.
Der Winter naht und regelmäßig in den kalten Jahreszeiten platzen die Unterkünste für Obdachlose in Berlin aus allen Nähten. Alle Hilfeleistungen inklusive der Kältebusse reichen hinten und vorne nicht, um den Bedarf auch nur annähernd zu decken. Gibt es Pläne im Senat, wie sich dieser Kreislauf nachhaltig durchbrechen lässt?
Die Strategiekonferenz des Senats im Oktober kommt viel zu spät, um für den kommenden Winter innovative Lösungen zu ermöglichen. Falls es also tatsächlich konkrete Resultate geben sollte, könnte dies erst ab 2019/2020 helfen.
Der kommende Winter wird daher wieder von Notlösungen, wie Kältehilfe, Kältebus und vermutlich auch Kältetoten geprägt sein. Denn die Probleme (und die Zahl wohnungs- bzw. obdachloser Menschen) wachsen leider schneller als der Senat Lösungen erarbeitet.
Die BVG befasst sich laut unserer Nachfrage ganz intensiv mit der Frage, Berliner U-Bahnhöfe künftig nicht mehr für kälteschutzsuchende Obdachlose zur Verfügung zu stellen. Was halten Sie von dieser Überlegung?
Ich verstehe, dass die BVG darauf hinweist, dass die Lösung sozialer Probleme in Berlin nicht ihre Aufgabe sei. Andererseits ist die BVG Empfänger umfangreicher Zuwendungen der öffentlichen Hand, was sie meiner Meinung nach zu einem besonderen gesellschaftlichen Engagement verpflichtet. Ich kann nicht verstehen, wenn Banken in ihren Kassenautomaten-Vorräumen Obdachlose übernachten lassen, die BVG aber ihre Bahnhöfe und Vorhallen verschließt.
Ich hoffe daher, dass es hier noch zu einer Einigung zwischen Senat und BVG kommt. Wobei man diese Diskussion nutzen könnte, um auch die Deutsche Bahn, sprich die S-Bahn, an ihre gesellschaftliche Verpflichtung als Notfallort für extreme Kälteperioden zu erinnern, denn es ist unverständlich, warum bisher nur die BVG hier offene Türen hatte.
Die Pressestelle der BVG sprach anlässlich unserer Nachfrage von schweren Sicherheitsbedenken, sollte die derzeitige Praxis der Öffnung für Obdachlose in dieser Form beibehalten werden. Teile Sie diese Ansicht?
Ich kann diese Vorbehalte nicht wirklich verstehen. Denn Stromleitungen und Drogenkonsum der Obdachlosen gab es schon immer und trotzdem wurden die Bahnhöfe bisher geöffnet. Bisher wohl ohne große Probleme in Sachen Sicherheit. Warum nimmt die BVG nun bei quasi unveränderter Situation einen Meinungswechsel vor? Die BVG sollte bedenken, dass eine coole Werbekampagne Engagement beim Vermeiden von Kältetoten nicht ersetzen kann.
Laut BVG sei die Zahl der Schutzsuchenden enorm gestiegen, hinzu kämen massive Alkohol- und Drogenprobleme sowie Sprachbarrieren zwischen dem BVG Personal und den Obdachlosen. Gewichtige Argumente also, doch reichen sie aus, um den Schutz von Menschenleben aufzuheben?
Ich frage mich, ob die Veränderungen zu den Vorjahren wirklich so gravierend sind, dass die BVG keine Alternative hat, als die Solidarität aufzukündigen. Die Zunahme von Bürgern aus Osteuropa ist seit vielen Jahren ein Problem und wahrlich kein neues Phänomen. Im Gegenteil: Es gibt erstmals sogar Engagement aus Polen sich seiner Landsleute in Berlin durch eigene Sozialarbeiter anzunehmen.
Zudem: Mit Sprachbarrieren hat es die BVG in einer internationalen Metropole wie Berlin sowieso Tag und Nacht zu tun. Ebenso mit Alkoholgenuss. Daher vermag mich die Argumentation der BVG nicht zu überzeugen. Ich denke, dass die Gespräche von Sozialsenat und BVG zu einer Lösung führen werden, mit der die BVG weiterhin Solidarität üben kann.
BVG-Bedienstete seien zudem keine Sozialarbeiter, heißt es weiter. Könnte der Senat ggf. im Rahmen einer Erste-Hilfemaßnahme diesbezüglich geschultes Personal zur Verfügung stellen, bis eine andere, tragfähige Lösung gefunden wird?
Es ist richtig, dass BVG Mitarbeiter meistens keine Sozialarbeiter sind, da ihre Aufgabe eine andere ist. Es wird aber bei der Nothilfe für Obdachlose in extremen Kältenächten auch keine Therapie oder Lebensassistenz erwartet, sondern nur die Gewährleistung eines warmen Freiraums.
Zudem gehört eine grundsätzliche Sensibilität bei ihnen auch zum Job, denn Touristen und Fahrgäste mit getrübtem Bewusstsein gehören zu allen Tageszeiten zu den Anforderungen des Jobs – bei Tag und insbesondere in den Nachtstunden.
Obdachlose zählen zu den vermeintlichen Schlusslichtern der Gesellschaft. Die Fähigkeit zur Empathie, also sich in diese Menschen einfühlen zu können, nimmt erkennbar deutlich weiter ab. Wie lässt sich eine solche, gesellschaftliche Entwicklung stoppen?
Diese Frage lässt sich nur schwer in kurzen Worten beantworten. Außerdem ist hier die gesamte Gesellschaft gefordert und nicht nur die Politik. Es geht um die Vermittlung grundlegender gesellschaftlicher Normen im Elternhaus. Ich spreche bewusst vom Elternhaus, denn die Schule muss viel zu oft die Erziehungsmängel ausgleichen bzw. es zumindest versuchen. Es ist in erster Linie die Aufgabe der Eltern ihren Kindern Werte und Normen zu vermitteln. Der Verzicht auf Erziehung und auf das Setzen von Grenzen ist keine gute Pädagogik.
Wir haben es mit einer formal immer größeren Sensibilität für Diversity zu tun und gleichzeitig mit einer immer schlimmeren Brutalität. Offensichtlich verhindert der Sprachkonsens von „Dunkelhäutigen Menschen“ oder „Starkpigmentierten“ statt von N*gern zu sprechen keine rassistischen Übergriffe. Im Gegenteil?
Die öffentliche Forderung nach Solidarität und die gesellschaftliche Realität eines extremen Individualismus fallen immer öfter auseinander. Offensichtlich bricht der gesellschaftliche Konsens zum Gleichklang von Rechten und Pflichten immer stärker auseinander. Wer Rechte in Anspruch nimmt, „erwirbt“ damit auch Pflichten gegenüber der Gemeinschaft; z. B. Respekt, Unterstützung oder Toleranz.
Neben dem Mangel an Empathiefähigkeit ist auch eine aggressive und ausgrenzende Grundstimmung gegenüber vermeintlichen Randgruppen wie etwa Obdachlosen spürbar. Schlimmer noch: Hass und Aggressionen bahnen sich den Weg. Ich erinnere an den noch relativ aktuellen Fall in Oberschöneweide, als Obdachlose mit Benzin übergossen und angezündet wurden. Auch hier sollte es doch unbedingt Stop-Linien geben. Wie könnten sie aussehen?
Ich denke, dass Stop-Linien im Rahmen der Erziehung ebenso erlernt werden müssen wie der generelle Umgang mit Aggression. Frühere Generationen waren bestimmt nicht weniger aggressiv, aber es gab gesellschaftlich akzeptierte Grenzen, die im Alltag nicht überschritten wurden: Wenn bei einer Keilerei einer auf dem Boden lag, war der Kampf entschieden und beendet, ohne dass man noch das Opfer trat oder ihm sogar auf Kopf / Leib sprang.
Dieser Prozess betrifft quasi alle Kreise der Gesellschaft, wie der genannte Fall zeigt. Dort war es keine Gewalt gegen Minderheiten oder Schwächere (die es viel zu oft gibt), sondern wohl Streit innerhalb des Milieus.
Statt Hass und Ausgrenzung: Was kann aus Ihrer Sicht – realistisch betrachtet – der ganz „normale“ Bürger dazu beitragen, menschliche Tragödien wie den Kältetod von Obdachlosen zu verhindern?
Ich denke, hier geht es um eine Vielzahl von eigentlich kleinen Dingen, die in der Summe zu einer Verbesserung führen können: Direkt mal Lebensmittel oder Geld an Obdachlose geben, Sachspenden für soziale Träger, nicht Wegsehen bei Gewalt. Aber auch die offensive Unterstützung für die Reintegration in einen Beruf oder in eine Wohnung anstatt latent abzulehnen, mit dem „Penner“ zusammenzuarbeiten oder zusammenzuleben.
Ich denke, dass der Umgang mit Obdachlosen, Behinderten oder Flüchtlingen nur ein Teil eines umfassenderen gesellschaftlichen Problems ist. Ein Desinteresse am Mitmenschen und an der eigenen Verantwortung nach dem Motto: Ich zahle schließlich genug Steuer, da soll sich mal der Staat drum kümmern. Die berechtigte Klage über die Abgabenlast befreit aber nicht von der eigenen Verantwortung, selbst aktiv zu werden.
Verweise: