Ursula Pidun


„Die Kanzlerin hat Alleingänge mit Rechtsbrüchen bezahlt“

Die zurückliegenden politischen Kapriolen von CDU und CSU haben das Vertrauen in die Bundesregierung erheblich geschwächt. Was ist von einem solchen Posssenspiel zu halten, inwieweit ist das erzielte Ergebnis glaubwürdig und hält Kanzlerin Merkel die gesamte Legislaturperiode durch? Nachgefragt! Im Gespräch mit der Literaturwissenschaftlerin, Publizistin und Beraterin für Politik und Top-Management Prof. Dr. Gertrud Höhler.

Frau Höhler, wir haben bereits 2012 anlässlich Ihrer Buchvorstellung „Die Patin“ über den IST-Zustand des Landes unter der Kanzlerschaft von Angela Merkel miteinander gesprochen. Ihre damalige, äußerst ernüchternde Diagnose hat sich in den nunmehr weiteren sechs Jahren erhärtet?

Prof. Dr. Gertrud Höhler

Prof. Dr. Gertrud Höhler

(Foto: Nik Hunger)

In der Tat sind meine Befunde und Prognosen bestätigt worden. Das Buch gewann Jahr für Jahr an Aktualität, weil zumindest eine steigende Zahl von Beobachtern und eine zunächst zögernde Schar von Journalisten das Tabugelände der Merkelkritik zu betreten wagten.

Aktuell liegt ein Possenspiel der Union hinter uns, das seinesgleichen sucht. Es lagen Optionen bis hin zum Bruch der Koalition auf dem Tisch. Was halten Sie von solchen Szenarien und geht es hier noch um Sachthemen oder wird am Sessel festgehalten?

Die Dramatik der Auseinandersetzung zwischen dem Innenminister Seehofer und der Kanzlerin Merkel entstand, weil beide wussten: Hier läuft ein Stellver­treter-Konflikt, in dem es um sehr grundsätzliche Verfassungswerte geht: Die Öffnung von Grenzen, die Normen für Neuankömmlinge, die diese Grenzen überschreiten wollen, ihre Nachweispflichten zu ihrer Identität und Herkunft; schließlich die Aufgaben des Verfassungsschutzes, der Bundes- und Landespolizei und der Weisung erteilenden Politik.

Seehofer hatte den Startschuss in diese Stellvertreter-Anklage so gesetzt, wie es die Staatsanwälte im Falle einer Häufung von Regelbrüchen und Delikten tun: mit einem pars pro tato, einem Einzelbeispiel, hinter dem aber für beide Kontrahenten das Labyrinth der Rechtsbrüche und unabgestimmten Entscheidungen aufleuchtete: Für die Kanzlerin bedrohlich, für ihren Innenminister vielver­sprechend im Sinne einer endgültigen Kehrtwende in der Migrationspolitik.

Meines Erachtens war und ist dieses Spektakel – insbesondere auch in Hinblick auf das Ergebnis – eine Zumutung für die Bürger. Wie beurteilen Sie dieses Szenario?

Dass in solchen Grundsatz-Duellen immer auch die Ämter und das Ansehen der Spitzenpolitiker auf dem Spiel stehen, versteht sich von selbst. Die deutsche Kanzlerin hat viele ihrer Alleingänge zum Machterhalt ungerührt mit Rechts­brüchen bezahlt; auf europäischer Ebene bei der sogenannten Eurorettung, in Deutschland bei der Verstaatlichung der Energiewirtschaft. Ihr Stichwort in der Seehofer-Affaire ‚keine Alleingänge‘ erscheint im Lichte ihrer Solo- Entscheidungen nicht überzeugend.

Wären Neuwahlen nicht die deutlich bessere Alternative? Auch, um die Machtverhältnisse wieder etwas in den demokratischen Rahmen zu verschieben? Das Volk ist der Souverän. Mir fehlt die Vorstellungskraft, dass es hier noch um den mehrheitlichen Willen der Bevölkerung geht.

Wie berechtigt diese Überlegung ist, zeigen uns die neuesten Umfrage-Ergebnisse. Da zeigt sich der – erwünschte? – Grad der Verwirrung, wenn eine Mehrheit für die – inzwischen schon wieder beerdigten – Transferzentren entscheidet, den Erfinder Seehofer aber zugleich für seine Vorschläge tadelt. Neuwahlen werden von vielen Bürgern wie die klärende kalte Dusche gesehen und gewünscht.

Betrachten wir einmal die „Flüchtlingskrise“, die augenscheinlich Auslöser des Streits zwischen CDU und CSU ist. Halten Sie den nun gewonnen Kompromiss auch nur im Ansatz für zielführend?

Diese Frage beantwortet sich inzwischen Tag für Tag deutlicher: Staunend nehmen wir zur Kenntnis, dass Flüchtlinge, die seit 2015 einer weltweit verbreiteten „Einladung“ nach Deutschland folgen, nun den Nachbarländern geschickt werden sollen, und, noch erstaunlicher, dass die Einigung der beiden Unions-Streiter als Sieg verkündet wurde, während die Nachbarländer bereits ankündigten, dass sie Deutschlands Problem nicht auf ihrem Territorium zu lösen gedächten.

Der kausale Fehler, der gemacht wurde und weitreichende Folgen nach sich zieht, war nicht die humanitäre Haltung Deutschlands gegenüber Geflüchteten aus Kriegs- und Krisengebieten, sondern das unilaterale Handeln der Kanzlerin. Hinsichtlich des Dublin III-Abkommen allerdings zu recht?

Das geschieht inzwischen in allgemeinem Einvernehmen. Dublin passt nicht mehr, so der – womöglich treffende – Befund. Die deutsche Kanzlerin hat aber bei all ihren Führungsentscheidungen nicht an Gesetze, Normen und Werte gedacht, sondern die Werte-Vokabel nur pauschal und nur verbal geltend gemacht, um den Freibrief für übergesetzliches Handeln weiterhin in Anspruch nehmen zu können.

Das ungeprüfte Durchwinken aller, die 2015 ins Land gekommen sind, lässt sich ebenfalls als eklatanten Fehler Merkels bewerten. Hier gibt es bis heute kein Einsehen schon gar nicht Konsequenzen auf der Seite der Kanzlerin?

Im Gegenteil, Nach einem kurzen Zwischenspiel im Jahr 2016, als sie ihre September-Aktion selbst kritisch sah, hat sie in den Jahren 2017 und 2018 unter dem Beifall ihrer Vasallen zu der kühnen Formel gefunden, 2015 dürfe sich nicht wiederholen – ganz so, als sei der Einlass für nahezu eine Million Menschen, ohne die weltweit üblichen Grenzkontrollen ein Naturereignis gewesen, auf das niemand Einfluss hatte. Also wurde im Märchenton nach dem Muster „als das Wünschen noch geholfen hat“ eine histo­risch sehr folgenreiche Entwertung von Völkerrecht verharmlost.

Das Sterben im Mittelmeer setzt sich unterdes unaufhaltsam fort, eine Migrationsbewegung ungeahnten Ausmaßes setzt sich in Bewegungen. Das Problem ist lange bekannt, weitreichende Lösungsstrategien bis heute hingegen nicht. Ist das nicht ein Versagen auf voller Linie?

Was hier im Streit liegt, ist eine Selbstverklärung der Deutschen, die in der „Willkommenskultur“ programmiert wurde und nun vor keiner Selbstüber­schätzung zurückschreckt, und der daraus entstehende Verschleierungsbedarf bei der deutlichen Radikalisierung der Flüchtlingsabwehr, die jetzt in Gang gekommen ist.

Weil das mittlere Mass verpasst wurde – Was können wir uns Zutrauen? Was dürfen wir den Bürgern zumuten? Wie schützen wir beide, die Neuankömmlinge und die Bürger dieses Landes, dessen Kapazitäten be­grenzt sind? – weil eben diese vernünftige Einschätzung der eigenen Möglichkeiten ausblieb, weil der Anschein humanitärer Weltgeltung so verlockend war, darum schlägt jetzt die Ausnahmebereitschaft in kalte Abwehr um – immer mit verbalen Werte-Beschwörungen auf den Lippen.

Hinter dieser Problematik werden auch vielfältige weitere Defizite versteckt. Innenpolitisch erwarten die Bürger moderne, zukunftsbezogene Lösungen im Bereich Rente, Infrastruktur, bezahlbares Wohnen, Digitalisierung und mehr. Wie viel Schwung trauen Sie der derzeitigen Bundesregierung diesbezüglich zu?

Die Neulinge unter den Ministerinnen und Ministern zeigen sich durchsetzungsentschlossen. Da melden sich sehr dringende Engagements mit lauter Stimme. Auch der Gesundheitsminister macht Tempo, der unterschätzte Entwicklungsminister ebenso.

Politiker haften nicht für das, was sie in ihrer Amtszeit bewegen. Wie müssen wir uns dann die Einlösung des Versprechens der Kanzlerin vorstellen, die Verantwortung für alles zu übernehmen?

Hat sie das wirklich versprochen? Und wenn: Wer sagt denn, dass sie es halten muss?

Schafft Angela Merkel aus Ihrer Sicht noch die komplette Kanzlerschaft und was halten Sie persönlich von meinem Vorschlag, die Geschicke unseres Landes beispielsweise Norbert Röttgen (CDU) vertrauensvoll in die Hände zu legen?

Zwischen Röttgen und Merkel steht die NRW-Geschichte, die Sie in meinem PATIN- Buch nachschlagen können. Merkel will Kramp-Karrenbauer, falls sie das durchsetzen kann. Ob sie bis 21 regiert, hängt nicht allein von ihr ab. Könnte sie allein das bestimmen, so bliebe sie. Unter Umständen auch länger.
 
*Prof. Dr. Gertrud Höhler ist Publizistin, Autorin, Literaturwissenschaftlerin und Beraterin für Topmanager aus Wirtschaft und Politik. Sie hat zahlreiche Bestseller veröffentlicht, darunter „Die Patin“ sowie „Demokratie im Sinkflug: Wie sich Angela Merkel und EU-Politiker über geltendes Recht stellen (Edition Tichys Einblick). Sie wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem auch mit dem Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland.

Verweise:

Source: Die Politikberaterin Gertrud Höhler über Possenspiele und den Zustand der deutschen Bundesregierung.