Dr. Stephan Schulmeister


Was steht hinter dem Begriff Neoliberalismus?

Der Neoliberalismus ist eine in den späten 1930er Jahren entwickelte Weltanschauung, die den alten Glauben an die Marktwirtschaft als einem sich selbst stabilisierenden System erneuerte. Dies schien den „versprengten“ Liberalen wie Friedrich von Hayek, Lionel Robbins, Walter Lippmann oder Wilhelm Röpke deshalb nötig, weil der Liberalismus durch die Weltwirtschaftskrise in Misskredit geraten war und der Ruf nach einem wirtschafts- und sozialpolitisch aktiven Staat immer stärker wurde.

Mag. Dr. Stephan Schulmeister zum Thema Neoliberalismus.

(Foto: StS_Stoeckl_(2018- ORF)

Diese Forderung wurde durch die bahnbrechende „Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes“ (1936) des englischen Ökonomen John M. Keynes wissenschaftlich fundiert. 1944 schrieb Hayek mit seinem Buch „Der Weg zur Knechtschaft“ gewissermaßen den „Katechismus“ der neoliberalen Bewegung: Nur eine reine Marktwirtschaft könne die freie Entfaltung der Menschen gewährleisten, nicht nur Kommunismus und Faschismus bedrohten die Freiheit, sondern auch ein umfassender Sozialstaat.

Gründung der „Mont-Pelerin-Society“

1947 gründete Hayek die „Mont-Pelerin-Society“ (benannt nach dem Gründungsort, einem kleinen Dorf bei Genf), das wohl einflussreichste Netzwerk der Nachkriegszeit. Am Anfang waren es nur 39 Gründungsmitglieder, heute sind es weit über 1000. Ziel war es, die „original thinkers“, also die „Geistesgrößen“ wie Hayek, Milton Friedman und andere Vordenker mit den „second-hand-dealers in ideas“ wie Journalisten und Betreibern von Think Tanks sowie mit deren Finanziers zu verbinden (insgesamt brachte die MPS 8 „Nobelpreisträger“ hervor – dieser „Nobelpreis“ war allerdings nicht von Alfred Nobel gestiftet worden – dieser hatte über Ökonomen geschrieben „ich hasse sie von ganzem Herzen“ – sondern von der Schwedischen Zentralbank).

In den 1950er und 1960er Jahren arbeiteten die „original thinkers“ an Theorien, welche Vollbeschäftigungspolitik, Sozialstaatlichkeit, Marktregulierungen, Arbeitnehmerrechte und die Gewerkschaften auf „wissenschaftliche“ Weise in Misskredit bringen sollten. Dabei ist zu bedenken: Gemeinsam sind den Neoliberalen nur diese großen Ziele, die Theorien, deren Annahmen und Methoden unterscheiden sich fundamental:

  • Die »Österreichische Schule« (um Hayek) betont die Beschränktheit menschlichen Wissens. Im Zentrum der Analyse stehen (daher) Marktprozesse und nicht Gleichgewichte.
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  • Die »neoklassische Schule« (besonders in Gestalt der „Schule von Chicago“ um Friedman) arbeitet mit mathematischen Gleichgewichtsmodellen und daher extrem realitätsfernen Annahmen (»homo oeconomicus«, etc.). Diese Schule hat seit den 1960er Jahren (wieder) die Dominanz an den Universitäten und – indirekt – in der Politik erlangt, insbesondere in der EU.
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  • Die »ordoliberale Schule« (um Walter Eucken) konzentriert sich auf wirtschaftspolitische Leitlinien. Generell soll der Staat verhindern, dass sich eine ungeregelte Marktwirtschaft durch Monopol- und Kartellbildung selbst aufhebt. Ihr Einfluss war und ist auf Deutschland begrenzt.

In den 1950er und 1960er Jahren hielt sich aber die Politik (insbesondere in Europa) an die Empfehlungen von Keynes: Durch strikte Regulierung der Finanzmärkte konnte sich das Gewinnstreben nur in der Realwirtschaft entfalten, die Wirtschaft wuchs stark und stabil, der Sozialstaat wurde ausgebaut, die Staatverschuldung sank, Unternehmer und Gewerkschaften kooperierten („Rheinischer Kapitalismus“ – allgemein in meinem neuen theoretischen Rahmen: „Realkapitalismus“). Unter diesen Bedingungen gingen die Gewerkschaften in den 1960er Jahren in die Offensive, forderten (mehr) Mitbestimmung, Umverteilung, setzten dies durch vermehrte Streiktätigkeit (Italien, Frankreich, England, etc.) auch durch, dann kam das Jahr 1968, immer mehr Intellektuelle drifteten nach Links, dieser Zeitgeist förderte der Aufstieg der Sozialdemokratie, dann kam 1970 noch die Kapitalismus-Kritik aus ökologischer Sicht „Club of Rome“),…..nicht nur für die „Finanzrentiers“, auch immer mehr Unternehmer, wurde klar: So kann es nicht weiter gehen!

Von der Real- zur Finanzwirtschaft

Nun war die Stunde der Neoliberalen gekommen: Sie hätte ja nachweislich schon seit den 1940er Jahren „bewiesen“, dass Sozialstaat und Vollbeschäftigung letztlich eine freie Wirtschaft zerstöre. Die Unternehmer(vertreter) kündigten – schrittweise – das Bündnis mit den Interessen der Arbeit und übernahmen den Neoliberalismus als „ihre“ (neue) Ideologie. Was sie nicht verstanden: Diese legitimiert die genuinen Interessen des Finanzkapitals („entfesselte“ Finanzmärkte, Geldwertstabilität als höchsten – und einziges – Ziel der Wirtschaftspolitik, hohe Zinsen, überbewerteter Wechselkurs, Senkung der Staatsquote) und eben nicht des Realkapitals (dieses profitiert von öffentlichen Investitionen, von stabilen finanziellen Rahmenbedingungen, ja auch von einer sozialen (Grund)Sicherung).

Weil die Vertreter der Realkapitalinteressen dies nicht verstanden, begriffen sie auch nicht, wie sehr die Umsetzung der neoliberalen Forderung nach Liberalisierung der Finanzmärkte ihren Interessen schaden würde: Auf die Aufgabe fester Wechselkurse 1971 folgten zwei Dollarabwertungen, darauf reagierte die OPEC mit zwei „Ölpreisschocks“, welche die beiden ersten Rezessionen der Nachkriegszeit nach sich zogen, Arbeitslosigkeit, Staatsverschuldung und die Inflation stiegen. Darauf reagierten die Notenbanken mit einer beispiellosen Hochzinspolitik, ab 1981 lag der Zinssatz in Europa 35 Jahre lang über der Wachstumsrate. Damit war der Übergang von Real- zum Finanzkapitalismus abgeschlossen.

Unter finanzkapitalistischen Rahmenbedingungen verlagerte sich das Gewinnstreben von der Real- zur Finanzwirtschaft („Lassen wir unser Geld arbeiten!“): Das Wirtschaftswachstum sank, Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung stiegen. Die Ursachen dafür wurden aber – entsprechend der nunmehr dominanten neoklassisch-neoliberalen Theorie – im Umfeld der Symptome gesucht:

  • Arbeitslosigkeit tritt am Arbeitsmarkt in Erscheinung, also muss dieser dereguliert werden, Löhne und Arbeitslosengeld sind zu kürzen, atypische Beschäftigungsformen zu schaffen.
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  • Staatsverschuldung tritt im Finanzministerium in Erscheinung, also muss seine Politik an Regeln gebunden werden (Maastricht-Kriterien, Fisklapakt, etc.).

Mit der Umsetzung dieser „Strukturreformen“ seit den 1990er Jahren verschlechterte sich die ökonomische und soziale Performance immer mehr, nicht zuletzt weil die „Finanzalchemie“ aller Art immer mehr zunahm. Diese systemischen Ursachen konnten und können aber mit „neoliberaler Brille“ nicht erkannt werden.

Publikation „Der Weg zur Prosperität“

Wie ich in meiner Publikation „Der Weg zur Prosperität“ zeige, war die Finanzkrise 2008 nicht ein spektakulärer „Betriebsunfall“, sondern die Frucht der gesamten „Spielanordnung“. Das Gleiche gilt für die nachfolgende Eurokrise und ihre Vertiefung in den kommenden Monaten. Das Grundproblem lautet: Innerhalb eines Denksystems kann man das Denksystem selbst nicht als Krisenursache erkennen. Anders gesagt: Ohne radikale Aufklärung über die Annahmen, Modelle und Schlussfolgerungen der neoliberalen Theorien, ihre schrittweise Umsetzung und die Entwicklung eines neuen Theorie-Ansatzes kann der „Ausgang des Menschen aus der selbstverschuldeten Marktreligiosität“ nicht gelingen.