Lars Jaeger


Von der Künstlichen Intelligenz und anderen Supertechnologien

Die meisten Menschen – darunter wohl auch die große Mehrheit der Schriftsteller – verstehen kaum, was hinter dem Vorhang der wissenschaftlichen Bühne genau vorgeht. Dennoch spüren sie, dass es sich dabei um gewaltige Prozesse handelt, die unserer aller Zukunft bestimmen. Es ist diese Kombination von intuitivem Spüren und Nicht-Wissen bzw. Nicht-Verstehen, die bei vielen für große Ängste und Verunsicherung sorgt.

Ein Essay über den wissenschaftlich-technischen Fortschritt

(Foto: ra2studio/Clipdealer.de

Aus diesem Stoff lassen sich großartige Geschichten formen, wie erfolgreiche Schriftsteller wissen: Letztes Jahr Dan Brown mit seinem Werk Origin, davor Michael Crichton in Büchern wie Beute oder Micro und Dave Eggers in The Circle. Und dieses Jahr zeigt es uns Frank Schätzing mit seinem neuen Roman Die Tyrannei des Schmetterlings.
In einem etwas weit hergeholten Plot mit den typischen Strukturmerkmalen einer Räuberpistole und einem Überfluss an zähen und langatmigen sprachlichen Ausuferungen zeigt Schätzing nichtsdestotrotz zielgenau einige wesentlichen Merkmale des technologischen Wandels auf:

  • 1. Seine Geschwindigkeit und die Komplexität des mit ihm einhergehenden gesellschaftlichen Wandels, welche die meisten Menschen gedanklich wie emotional überfordern. Sie sehen sich nicht mehr als Akteure mit Einfluss auf gesellschaftliche Veränderungen, sondern können nur noch auf die irrwitzig schnellen Transformationen reagieren. So wird Schätzings Protagonist aus seinem Lebensalltag als Polizist in einem Wüstendorf in der Sierra Nevada in die Welt der Künstlichen Intelligenz geworfen und findet sich im wahrsten Sinne des Wortes, und ohne dass er es zunächst überhaupt weiß, in einer neuen Welt wieder.
  • 2. In den letzten 250 Jahren sahen sich die Menschen jeweils singulären technologischen Umwälzungen ausgesetzt. Heute erfahren wir gleich eine ganze Reihe ihrer auf einmal. Und ihre Kombination und gegenseitige Wechselwirkungen besitzen umso stärkere Auswirkungen. Auch dies illustriert uns Schätzing: Künstliche Intelligenz (KI) kombiniert mit neusten Quantentechnologien, Gen- und Biotechnologien wird zu einer gefährlichen Militärbedrohung, was in einem Szenario Schätzings zum Ende der Menschheit führt.
  • 3. Moderne Technologien selbst sind derart komplex, dass sie Ergebnisse produzieren, die selbst Experten nicht mehr in allen Einzelheiten oder gar in ihrer Gesamtheit verstehen. Auch dies beschreibt Schätzing, wenn er die von Menschen erschaffene KI Ergebnisse produzieren lässt, die von keinem Menschen mehr nachvollzogen werden können. Zuletzt versteckt die KI sogar aus strategischen Gründen ihre Eigenschaften und Potenz vor ihren menschlichen Erschaffern.
  • 4. Die Konsequenzen der technologischen Entwicklung sind nicht lokal begrenzt. Themen wie Militärtechnologie, Umweltzerstörung, Klimakatastrophe, KI und Genmanipulation betreffen und bedrohen die Menschheit insgesamt! Entwicklungen und Probleme in scheinbar so fernen Kontinenten wie Afrika und Asien zeigen ihre Auswirkungen unmittelbar bei uns in Europa und Nordamerika und umgekehrt. So beschreibt Schätzing, wie die Errungenschaften aus der Forschung mit KI, Bio- und Gentechnologie von Bösewichten im Bürgerkrieg im Süd-Sudan eingesetzt werden.

Superintelligenz, die Weiterenwicklung selbst steuert

Auch Schätzing wählt (wie Dan Brown) einen genialen Computer-Wissenschaftler als Pionier einer neuen Welt. Die Parallelen zu Brown gehen noch weiter: Auch Schätzings Genie gelingt es vor allen anderen – also auch vor Google, Microsoft und IBM – einen Quantencomputer zu bauen. Doch insbesondere auf den einschlägigen Feldern der KI liegt dessen Firma international an der Spitze: Sprach- und Gesichtserkennung, Medizindiagnostik, autonomes Fahren, und vieles andere. Und genau hier zeigt Schätzings Roman Stärke. Er vermittelt dem Leser eindrucksvolle Beispiele spektakulärer und heute bereits existierender Anwendungen der KI, sowie auch ihre durchaus realistische Verbindungen zu Bio- bzw. Gentechnologien und zu den neusten Quantentechnologien. Bzgl. letzterer deutet Schätzing an, welche gewaltigen Möglichkeiten sich für die KI-Forschung aus der Entwicklung eines Quantencomputers ergeben würden. Der Autor dieser Zeilen hat diese Entwicklungen in seinem letzten Buch „Supermacht Wissenschaft“ (2017) ausführlich beschrieben (und beschäftigt sich in seinem neuen Buch „Die zweite Quantenrevolution“ (erscheint im September 2018) konkret mit dem Entwicklungsstand von Quantencomputern).

Die beispiellos mächtige KI in Schätzings Story entwickelt sich sogar zu einer Superintelligenz, die die Weiterentwicklung des technologischen Fortschritts schließlich selber in die Hand nimmt und den Menschen dabei hinter sich zurücklässt. Dabei ermöglicht sie – und hier driftet die Story leider ins Bizarre ab – die Konstruktion von sogenannten „Toren“. Dies sind Übergänge in unzählige Paralleluniversen, in denen das Weltgeschehen in allerlei Variationen abläuft und die Alter Egos der Protagonisten ihr Leben mit jeweils etwas anderen, aber durchaus vergleichbaren Ereignissen und Abläufen leben. Der Protagonist gerät unfreiwillig und zunächst unbewusst in eine solche Parallelwelt. Schließlich muss er in eine weitere Parallelwelt reisen, um dort interuniversumsreisenden Waffenhändlern ihr Handwerk mit gezüchteten KI-Cyborg-Libellen zu legen. Schablone dieser absonderlich anmutenden Weltenherumspringerei ist eine umstrittene Interpretation der Quantentheorie. Es handelt sich um die so genannte „Everett’sche Viel-Welten-Theorie“. Hier lässt Schätzing den Leser allerdings allein. Eine genaue Erklärung für die mögliche Existenz solcher Parallelwelten liefert er nicht.

Dies sei hier kurz nachgeholt (siehe auch: L. Jaeger, „Die zweite Quantenrevolution, 2018): Die erfolgreichste Theorie der modernen Physik, die Quantentheorie, kommt mit einem fundamentalen Problem, welches bereits ihren Vätern um Albert Einstein, Niels Bohr und Erwin Schrödinger viel Kopfzerbrechen bereitete: Wie steht es im Mikrokosmos der Atome um die Unabhängigkeit des zu messendem Objekt von dem messenden Subjekt. Denn auf atomarer Ebene lassen sich die Eigenschaften des zu Messenden vom Einfluss der Messung grundsätzlich nicht mehr trennen. Dies hört sich weit harmloser an als es ist. Schrödinger veranlasste dieses so genannte „quantenphysikalische Messproblem“ zur Formulierung eines fiktiven Versuchsaufbaus, der als „Schrödingers Katze“ in die Geschichte der Physik eingehen sollte. Spätestens hier wähnen sich die meisten Leser dieser Zeilen wohl auf vertrautem Territorium: Eine von Schrödinger entsprechend konstruierte Kausalkette verbindet Geschehnisse des Mikrokosmos (der Zerfall eines Atomkerns) in direkter Linie mit der Welt unserer direkten Erfahrung (in diesem Fall das Schicksal einer Katze).

Nach den Gesetzen der Quantenphysik

Durch den Versuchsaufbau ist nicht nur der Zustand des Atomkerns zunächst objektiv unbestimmt und wird erst mit der Messung selbst bestimmt, wie es nach den Gesetzen der Quantenphysik auch sein sollte, sondern dies sollte nun auch für den Zustand einer Katze gelten, deren Leben eben über eine Kausalkette mit dem Zerfall des Kerns verbunden ist. Nach den Gesetzen der Quantentheorie sollte sich auch diese in einem Zustand der Überlagerung aus „tot“ und „lebendig“ befinden. Wie der Kern befindet sich die Katze in beiden Zuständen zugleich, solange die Tür zu ihrer Kiste nicht aufgemacht und so der Messprozess durchgeführt wird. Einen radikalen Ausweg aus diesem Dilemma um das Messproblem offerierte 1957 der amerikanische Physiker Hugh Everett. Er ordnete einfach allen möglichen Zuständen, ob tote oder lebendige Katze, eine eigene physikalische Realität zu. In jedem Moment, konkret mit jedem quantenphysikalischem Ereignis, trennt sich die Welt in zwei Welten auf, die von nun an unabhängig voneinander fortexistieren. Demnach existieren alle physikalisch möglichen unterschiedlichen Vergangenheiten des Universums tatsächlich. Das Problem für Schätzings Geschichte ist: Jegliche physikalische kausale Verbindungen zwischen den Parallelwelten ist ausgeschlossen!

Dramatik des wissenschaftlich-technologischen Fortschritts

So absurd seine Parallelwelten-Story, so einfallslos die Räuberpistole um das Genie und die Bösewichter, die dessen Vertrauen des schnöden Mammons wegen missbrauchen, so ausufernd und nervtötend Schätzings Umgebungsbeschreibungen auch sind, mit seiner erzählerischen Darstellung der KI, in Kombination mit Bio- und Gentechnologien und der zweiten Quantenrevolution hat Schätzing einen Nerv der Zeit getroffen. Seine Geschichte lässt den Leser in Anbetracht der Möglichkeit einer KI, die dem Menschen in allen Belangen überlegen ist, ihn beliebig manipuliert, und ihn zuletzt vernichtet, aufgelöst zurück. Sein Roman steht in einer Reihe mit zahlreichen anderen scharfen Warnungen zur KI, formuliert zumeist gerade von Seiten derjenigen, die am meisten von ihr verstehen, den Wissenschaftlern selbst und den Unternehmern, die Geld in sie investieren (Beispiele sind Elon Musk und Bill Gates). Dabei behandelt der Roman auch ein tiefes philosophisches Problems: Kann eine Maschine, wie intelligent sie auch sein mag, ein Bewusstsein seiner selbst erhalten?

Es ist dies die Frage nach der Natur unseres Bewusstseins. Bei Schätzing lautete die Antwort auf diese Frage „Ja“. Sein Roman ist ein wertvoller Beitrag innerhalb einer wichtigen gesellschaftlichen Diskussion, die bis heute zu wenig stattfindet. Denn er rüttelt auf. Und alles, was es braucht, um ein allgemeines Bewusstsein für die Dramatik des wissenschaftlich-technologischen Fortschritts unserer Gegenwart zu entwickeln, ist zu begrüßen. So auch Schätzings lesenswerte und dabei zugleich spannende Zukunftsdystopie. Wenn der Autor dann auch im politischen Diskurs vor klaren Aussagen wie „Ich glaube Mark Zuckerberg kein Wort“ nicht zurückschreckt, ist dies umso begrüßenswerter.