Kritik: Hartz IV – Unrecht ohne Mauern?
Staatstragend wird im kommenden Jahr 2019 die Öffnung der Mauer vor 30 Jahren gefeiert. Gleichzeitig mahnt eine kleine anonyme Botschaft, die mit wasserfester Kreide auf dem Asphaltboden einer Brücke in Berlin hinterlassen wurde: "Hartz IV - Unrecht ohne Mauern". Können wir noch immer nicht ohne Ausgrenzung, Stigmatisierung und Schubladendenken leben?
Der Mauerfall vor fast drei Jahrzehnten wird im kommenden Jahr das wohl prägnanteste Thema in Politik. Gesellschaft und Medien. Das einzigartige geschichtliche Ereignis hat es wahrlich verdient, gebührend gefeiert zu werden. Es könnte noch mehr an Glanz gewinnen, wenn die Fakten und Hintergründe des Zusammenbruchs klarer verdeutlicht werden. Denn nur das Zusammenspiel vieler Faktoren, zu denen in erster Linie der völlige wirtschaftliche Zusammenbruch, zählte, führte zur Öffnung der Grenzen.
Neue unsichtbare Mauern
Gemessen an der Opulenz der Mauer konnte die damalige, menschenverachtende Grenzanlage erstaunlich schnell abgeräumt werden. Die Mauer im Kopf hält sich spürbar länger und andere – vorsichtshalber unsichtbare – Mauern wurden zwischenzeitlich neu aufgebaut. Eine davon könnte Hartz IV sein. So jedenfalls sehen es die unbekannten Autoren eines Schriftzugs, der seit vorgestern auf dem Asphaltboden einer Berliner Brücke prangt.
„Hartz IV – Unrecht ohne Mauern“ heißt es dort in sorgfältig aufgetragenen gelben und blauen Lettern aus Kreide. Ist an dieser Botschaft etwas dran? Angekommen ist sie jedenfalls. Hier klingt Weltschmerz durch, authentisch, betroffen, hoffnungslos und wehrlos gleichermaßen. Kann sie uns, die wir doch vermeintlich in einer freiheitlichen und liberalen Gesellschaft leben, kalt lassen? Das Wesen der Demokratie beruht darauf, dass Menschen eine Wahl haben und nicht fremdbestimmt oder gar ins Abseits gedrängt werden. Es stellt sich die Frage, ob wir dieses Versprechen und damit das Grundgesetz mit dem Hartz IV-Programm tatsächlich einhalten.
Maßgebliche Fehler in Wirtschaft und Politik
Ist Arbeitslosigkeit eine Schuld, die Betroffene auf sich laden? Politik schiebt die vermeintliche „Schuld“ damit auf die Schwächsten, die sich nicht wehren können. Im Sinne eines wirtschaftlichen und politischen Fehlerverhaltens wurde allerdings die in den vergangenen Jahrzehnten erzielte Effizienz der Arbeit nicht an die Arbeitszeiten angepasst. Insofern wurden zunehmende Arbeitslosigkeit, Dumpinglöhne und die radikale Entwertung von Arbeit bewusst produziert. Mit fragwürdigen Werturteilen, wie etwa „bildungsfern“, „prekär“, „schwer vermittelbar“, „multiple Vermittlungshemmnisse“ und ähnlichen Begriffen schieben die Akteure den Schwarzen Peter unreflektiert an die Betroffenen ab. Stigmatisierung wird so staatlich legitimiert und Differenzierungen zwischen „sozial schwach“ und „einkommensschwach“ finden so gut wie nicht statt.
Hohe Kosten durch Ineffizienz der Jobcenter
Die enorme Ineffizienz der Jobcenter, in deren Bürostuben teure Angestellte damit beschäftigt sind, vermeintliche Schlusslichter der Gesellschaft mit fragwürdigen Programmen aus den Statistiken zu schieben, sollte ebenso gesellschaftliche Ablehnung finden, wie das Herumwühlen der Arbeitsagenturen bis tief in die Privatsphäre betroffener Menschen. Die frühere Arbeitslosenhilfe hat Aspekte des Respekts, der Würde und Selbstbestimmung, sowie ein Mindestmaß an Vermögensschutz, Datenschutz und Privatsphäre gewürdigt. Hartz IV leistet dies nicht. Im Gegenteil: Es drückt Menschen in Fremdbestimmung und Mittellosigkeit, wie es bis zu Beginn der 2000er Jahre kaum vorstellbar war. Last but not least: Die Wertigkeit eines Menschen bemisst sich nicht daran, ob seine Leistung ein Erwerbseinkommen erzielt oder nicht.
Mauern der Ausgrenzung abreißen
„Hartz IV – Unrecht ohne Mauern“ steht in fein säuberlichen Lettern auf dem Asphaltboden der Berliner Brücke. Wer mag sie sich von der Seele geschrieben haben? Wir werden es nicht erfahren. Doch niemand, der sich für einen empathischen, sachlich orientierten und überzeugten Demokraten hält, kann über solche Worte kommentarlos hinwegtrampeln und sie abschütteln, als habe er damit nichts zu tun.
Verweise: