Antisemitismus – „Die Dimension löst jeden Rest menschlicher Individualität auf“
Helen Waldstein Wilkes wurde in Strobnitz/Horni Stropnice geboren. Ihre Familie floh im April 1939 aus Nazi-Deutschland und ging ins kanadische Exil. Wilkes hat in Romanistik promoviert und über 30 Jahre an Schulen und Universitäten in Kanada und den USA gelehrt. In ihrem Ruhestand, den sie in Vancouver verbringt, erforscht sie ihr eigenes kulturelles Erbe und dessen Bedeutung. In diesem Zusammenhang entstand auch die aktuelle Publikation "Das Schlimmste aber war der Judenstern. Das Schicksal meiner Familie". Nachgefragt!
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„Mein Ziel war und bleibt es, so viele Leser wie möglich zu erreichen, damit wir nicht vergessen wie es einmal war und wie es sich in einer anderen Form wieder ereignen könnte, wenn die Menschen nicht frühzeitig ernsthaft und kritisch zu denken anfangen und den Unterschied zwischen Wahrheit und Propaganda lernen“.
Frau Wilkes, Ihre Familie ist 1939 aus Nazi-Deutschland ins kanadische Exil geflohen. Können Sie selbst sich an die Stimmung und an die unglaublichen Verhältnisse, die damals herrschten, erinnern?
Nein, ich war ein Kind, und alles was blieb ist die Angst. Es heißt, der Körper erinnert sich auch wenn der Kopf vergisst. Kinder saugen mit der Muttermilch die Angst ein. Wann immer und wo auch immer in der Welt die Bomben fallen, gerate ich in Panik.
Anfang 2014 erschien Ihr Buch mit dem Titel: „Das Schlimmste aber war der Judenstern. Das Schicksal meiner Familie„. Was ist die Idee hinter dem Buch und sind Sie bei Ihren Recherchen auch zu ganz neuen Erkenntnissen gelangt?
Ein Sprichwort sagt: „Sei Dir bewusst, woher Du kommst, damit du von den Erfahrungen der Menschen lernen kannst, auf deren Schultern du stehst“. Bis ich im Alter von 60 Jahren auf eine staubige Schachtel mit Briefen von meiner verstorbenen Familie stieß und sie öffnete, hatte ich keine Ahnung auf wessen Schultern ich stand. Ich wuchs in Kanada auf, als Einzelkind und auf einer isolierten Farm mit Eltern die sich weigerten, von der Vergangenheit zu sprechen. Ich wusste kaum etwas darüber, warum wir in ein fremdes Land geflüchtet waren, das so schwierig erschien.
Als ich die Briefe las, änderte sich alles. Urplötzlich sprangen vier Großeltern in mein Leben hinein. Dazu Lieblingstanten, Onkel und auch Cousinen und Cousins, mit denen ich einst gespielt habe. Ihre Stimmen klangen in meinen Ohren und ich konnte die Briefe nicht einfach weglegen und diese Stimmen ein zweites Mal verstummen lassen.
Sie riefen förmlich nach dem Leben, diese Stimmen, und sie baten die Welt der Zukunft, ihre Worte zu hören. Und so begann dieses Buch. Je mehr ich jeden, der uns nach Kanada geschrieben hatte, als Individuum mit seiner Einzelreaktion auf die Ereignisse in Europa sah, desto wichtiger wurde es, auch jedem einzelnen Individuum die Stimme wiederzugeben. Ich war mir sicher, dass auch andere Menschen Interesse an diesen Stimmen zeigen würden.
Sechs Millionen – das ist zahlenmäßig eine Dimension, die jede Spur, jeden Überrest der menschlichen Individualität auflöst. Ich wollte den Kanadiern zeigen, wen sie verloren hatten, weil sie auf das Einreiseverbot gegen Juden bestanden. Mit der Zeit wollte ich, dass auch die Deutschen sehen, wen sie verloren haben – ihre Schulkameraden, Freunde und Nachbarn, denen sie zumindest den Rücken gekehrt hatten.
Wie erklären Sie sich den Hass auf das Judentum der in Deutschland schließlich zu den wohl größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte führte?
Ich bin keine Historikerin und ich weiß nicht was man alles auf die Waage legen soll, um herauszufiltern, welches das größte Verbrechen war. Von Genghis Khan bis zu Stalin und Mao, und leider bis zum heutigen Tag werden Gräueltaten fortgesetzt. Für mich persönlich ist das deutsche Verbrechen doppelt abscheulich, weil es bewusst und vorsätzlich geplant und ausgeführt wurde von Menschen, die damals zu den hochgebildetsten der Welt zählten.
Ich glaube aber nicht, dass die Deutschen von Natur aus bösartig sind und ich schaue mit großem Respekt auf die folgende Generation, die sich gründlich mit den tragischen Fragen der Kriegszeit beschäftigt und viel darüber studiert und nachgedacht hat. Ich glaube, dass Deutschland – mehr als jedes andere Land auf der Welt – aus der Vergangenheit gelernt und Schritte gemacht hat, um der Weltgemeinschaft glaubhaft zu vermitteln, dass es in der Zukunft nie eine Wiederholung der Vergangenheit geben wird.
Ich stimme auch Historikern zu, die behaupten, dass es damals teilweise zu einem unglücklichen Zusammenspiel der Verhältnisse gekommen ist und dass Antisemitismus in anderen Ländern noch deutlicher zu spüren war, als in Deutschland. Wenn Menschen demoralisiert und wirtschaftlich benachteiligt sind, wenn sie glauben keine Zukunft zu haben, wie dies damals nach dem Ersten Weltkrieg der Fall war und auch heute noch in vielen Teilen der Welt der Fall ist, dann greifen sie nach dem Strohhalm und folgen jedem Führer der ihnen Hoffnung auf ein besseres Leben verspricht.
Antisemitismus wurde zu Nazi-Zeiten weitgehend vom Staat initiiert und damit legitimiert. Warum sind aus Ihrer Sicht so viele Bürger auf die Spirale des Hasses und der Gewalt aufgesprungen? Millionenfache Gegenwehr hätte die Nazis stoppen können?
Die Menschen lieben leichte Antworten und viele sind auch froh, wenn sie nicht zu viel selbständig nachdenken müssen. Heutzutage beweisen Neurowissenschaftler, dass das, was die Menschen glauben, fast nichts mit den Tatsachen zu tun hat. Stattdessen besteht eine starke Korrelation zu Einflüssen, denen die Menschen in der Kindheit ausgesetzt waren, wie etwa der sozialen Zugehörigkeit und den historischen Umständen. „Dank“ der frühen Kirchenväter hat ganz Europa zudem schon im Mittelalter gelernt, die Juden als Töter Christi zu verachten. Hitler verstand es, dieses Misstrauen auszubauen und Juden als „Brut des Teufels“ zu bezeichnen.
Als Lehrerin, die sich nicht nur für die Ausbildung der Jugend sondern für das lebenslange Lernen interessiert, ist es für mich nur schwer zu verstehen, warum so viele kultivierte Menschen auf die Spirale des Hasses aufgesprungen sind. Einer meiner Onkel, der den Krieg nur kurz überlebte, schrieb einen Brief voll Erstaunen über die Wunder der Wissenschaft und der Technologie, die ihre Anwendung in Theresienstadt und Auschwitz fanden. Hat nicht jeder Wissenschaftler die Verantwortung zu fragen, wozu seine Erfindungen gebraucht werden? Müssen sich heute nicht alle gewissenhaften Lehrer und Eltern fragen, wie man eine neue Generation erziehen kann, die sich weigern würde, solche Grausamkeiten durchzuführen?
Glauben Sie an die vielen Beteuerungen Deutscher der damaligen Zeit, sie hätten von den Gräueltaten der Nazis bzw. deren Ausmaße nichts gewusst?
Dass sie nichts wussten, glaube ich nicht. Zu viele Menschen waren in den damals stattgefunden Prozess eingebunden und dass Hitler eine judenreine Welt wollte, war kaum ein Geheimnis. Manche Menschen waren in dem Maße verwickelt, dass sie um Mitternacht an die Türen klopften und Juden wie Vieh in die Züge trieben.
Es mag sein, dass sie nicht fragten, wohin die Züge denn fahren. Aber sie konnten unmöglich glauben, dass Tausende derart verängstigter Menschen in fröhliche Sommerferien fuhren.
Andere waren „nur“ Zugführer und haben nicht gefragt, was sie dort in den Waggons über das Land zogen. Wieder andere zeigten nur nach links oder rechts, als die Juden dann in die Konzentrationslager kamen.
Andererseits mag es wohl wahr sein, dass nur wenige Deutsche ein Bild vom dem wahren Ausmaß der Gräueltaten hatten. Ich glaube nicht, dass normale Menschen Wahrheiten dieser Form dulden können. Die Details der Gräueltaten liegen einfach jenseits der menschlichen Vorstellungskraft.
Wir alle glauben, dass „unsere“ Gesellschaftsgruppe nicht fähig ist, Gräueltaten auszuüben. Und wir glauben irgendwie moralisch besser zu sein, als andere. Vieles von dem, was geschieht, wollen wir einfach nicht wissen, besonders wenn es unsere eigene Regierung oder die Regierung eines verbündeten Landes tut. Keiner will beispielsweise heute die genauen Ausmaße der Quälereien in Guantánamo wissen. Es entschuldigt nichts, aber es ist vielleicht auch menschlich, nicht alles wissen zu wollen. Für die Deutschen der damaliger Zeit war es bestimmt angenehmer zu glauben, ihre plötzlich verschwundenen Schulkameraden und Nachbarn seien nach Amerika gereist, als sich vorzustellen, dass man sie in Auschwitz vergast hat.
Konnte Ihre Familie trotz unermesslichem Leid verzeihen und können Sie selbst Deutschland vergeben?
Meine Eltern wahrscheinlich nicht. Als manche Leute nach dem Krieg anfingen, ein wenig zu reisen und vom guten Essen und der schönen Musik und der Landschaft „drüben“ zu sprechen, sagten meine Eltern immer wieder dasselbe: „Nie wieder nach Europa!“.
Für mich ist die Antwort ganz anders. Ich hatte in Kanada meine Erfahrungen von Antisemitismus erlebt und habe gelernt, dass es überall auf der Welt gute Menschen und nicht so gute Menschen gibt. Sobald ich alt genug war um zu reisen, zog mich immer Europa an, und besonders die deutschsprechenden Länder. Dort habe ich immer mehr Menschen kennengelernt, deren Liebenswürdigkeit und Verständnis mich erstaunten.
Ich spreche natürlich hauptsächlich von einer neuen Generation, Menschen, die „damals“ noch jung oder noch gar nicht geboren waren und die sich mit denselben Fragen beschäftigten, die auch mich bewegten.
Ich will auch betonen, dass sich gerade in Deutschland mehr Menschen als in jedem anderem Land noch immer verurteilen und sich mit schwerwiegenden Fragen beschäftigen. Dies rechne ich ihnen hoch an.
Denken Sie in Hinblick auf Ihre versöhnlichen Worte an ganz bestimmte Personen und Begegnungen?
Ich denke dabei an die vielen Leute, die ich während meinen Forschungen kennen gelernt habe. Der junge Mann, der mich die Treppen hinauf in einem Turm in seiner Heimatstadt führte, um mir die Reste eines Lagers zu zeigen. Immer wieder fragte er sich, wie seine ansonsten so sehr braven und würdigen Eltern diese Schande vor ihrer Türe ignorieren konnten. Ich denke an die vielen Fremden, die heute zu meinen Freunden gehören. Menschen, die mir nicht nur mit dem Buch geholfen haben, sondern mich in ihr Haus eingeladen und wie ein Familienmitglied betrachtet haben. Sie alle haben geholfen, die Deutschen aus einer anderen Perspektive zu sehen.
Und ich komme teilweise auch nach Deutschland, um eine neue Sichtweise mitzubringen. Ich wurde als Jüdin deutschen Ursprungs vertrieben, wohlwissend das mich dies zu einem „rar bird“, also sozusagen zu einem „besonderen Vogel“ macht. Die meisten Juden in Deutschland sind erst lange nach dem Krieg von „anderswo“ hergekommen. Ich aber habe hier meine Wurzeln.
Ist die Zeit reif, für deutlich mehr Kommunikation, Austausch und Gespräche mit jüdischen Mitbürgern und Zeitgenossen?
Unbedingt. Mehr und bessere Kommunikation und ein gemeinsames Verständnis sind ausschlaggebend. Gibt es einen anderen Weg, eine Wiederkehr des Dritten Reiches und anderer historischen Abscheulichkeiten zu vermeiden?
Was wünschen Sie sich in Hinblick auf das Zusammenleben jüdischer Bürger mit Zeitgenossen anderer Religionen und Kulturen im Besonderen?
Meiner Meinung nach wäre es ein Schritt in die richtige Richtung, wenn wir aufhören würden, die Menschen als Mitglieder einer Rasse, einer Religion, oder sogar als „Volk“ eines Landes zu kategorisieren. Ich bin Jüdin, doch das sagt überhaupt nichts über alle anderen Juden aus. Ebenso wenig, wie man einen einzelnen evangelischen oder katholischen oder atheistischen Menschen für „typisch“ halten kann. Wie alle Menschen haben Juden verschiedene Meinungen über jedes Thema.
In jeder Familie gibt es gute und nicht so gute Menschen. Das ist eine Wahrheit, die für Kanada genauso gilt, wie für jedes andere Land, jede Rasse und jede Kultur. Keiner ist typisch. Wir alle müssen lernen, jeden einzelnen Mensch als Individuum zu betrachten und nicht nur als Mitglied einer Gruppe, gegen die uns ein schlauer Politiker aufhetzen kann.
Verweise:
„„Das Schlimmste aber war der Judenstern. Das Schicksal meiner Familie“.„
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Ich freue mich auf eine Begegnung in Berlin …