Nebel über den Vidovdan in Sarajewo
Am 28. Juni 1914 erschoss der bosnische Serbe Gavrilo Princip das österreichisch-ungarische Thronfolgerpaar Franz Ferdinand und Sophie in Sarajevo. Das Attentat sollten den weiteren Gang der Ereignisse zum Ersten Weltkrieg bestimmen. Die serbische Achse zum Attentat ist nicht geklärt, erläutert der Historiker und Autor Dr. Malte Olschewski.
In den Belgrader Studentenkneipen „Eichelkranz“ und in der „Ahorngirlande“ wogte im Duft bruzzelnder Cevapcicis auch die Gewissheit, dass bald Historisches geschehen würde. Nach den serbischen Erfolgen in den Balkankriegen gingen hier neben Schülern auch Veteranen aus und ein, um zu verkünden, dass die eroberten Gebiete im Süden nur ein Anfang gewesen seien. Nun wäre das seit 1878 österreichisch besetzte Bosnien an der Reihe. Serbisch-bosnische Hochschüler wie Gavrilo Princip, Trifko Grabez und Nedeljko Cabrinovic waren sich einig: Wiens Thronfolger Franz Ferdinand war mit seinem Trialismus aus Österreich, Ungarn und Slawien die größte Gefahr für die serbische Mission.
Bisher waren mehrere Attentate auf k. und k. Würdenträger gescheitert
Ein gewisser Milan Ciganovic rankte sich bald als ein Schattengewächs um die Runde. Zeitungen schrieben, dass Franz Ferdinand zum Vidovdan 1914 Bosnien besuchen würde. Dieser 28. Juni ist wegen der legendären Schlacht am Amselfeld 1389 auch der heilige Tag der Serben. Damals war der serbische Zar Lazar von den Türken besiegt worden, doch sein Mitstreiter Milos Obilic hatte Sultan Murad ermordet. In Wien gab es wegen des Datums Bedenken, aber Franz Ferdinand hielt daran fest, weil es auch ein Hochzeitsjubiläum war. Gattin Sophie sollte bei einem Triumphzug durch Sarajewo Ehren genießen, die ihr am Wiener Hof vorenthalten waren.
Bisher waren mehrere Attentate auf k. und k. Würdenträger gescheitert, doch sahen radikale Serben im Vidovdan 1914 fast eine Einladung. Bald erhielt Princip den Ruf zu einem Treffen mit Vojin Tankosic, einem Führer in südlichen Kämpfen. Doch hinter Tankosic ragte ein mythisch umdüsterter Schatten: Es war der „neue Obilic“, Serbiens heimlicher Held Dragutin Dimitrijevic, genannt „Apis“, Chef des Geheimdienstes. Doch „Apis“ und das Militär waren damals in einem tödlichen Kampf mit Premier Nikola Pasic verstrickt. Es ging um die Prioritätenfrage.
Der Geheimbund „schwarze Hand“
Wer sollte in den neu eroberten Ländern Vorrang oder Vortritt haben? Die zivilen Minister und ihr Anhang oder das Militär, das diese Gebiete erobert hatte? „Apis“ dachte sogar an einen Putsch, doch der Besuch in Sarajwo ließ andere Pläne reifen. Die drei tatbereiten Studenten wurden von Milan Ciganovic vorbereitet und trainiert. Sie hielten im Topciderpark sogar Schießübungen ab. Sie trafen sich mit Tankosic, nie jedoch mit „Apis“, in dessen Auftrag sie aber zu handeln glaubten. Bald wussten höhere Kreise und wahrscheinlich auch das Königshaus, dass der Geheimbund „Ujedinjendje ili smrt“ („Unabhängigkeit oder Tod“, auch „Schwarze Hand“) zum Vidovdan in Sarajewo ein Attentat planen würde.
Geheimbünde sind eine Tradition am Balkan. Pasic konnte die „Schwarze Hand“ nur ausgreifen lassen, um mit einem Finger mitzufühlen. Ciganovic war mit Mitgliedsnummer 412 ein Agent des Pasics in der „Schwarzen Hand“, die sich auf den starken Arm der offiziellen Kultur- und Nationalorganisation „Narodna Odbrana“ (Nationale Verteidung) verlassen konnte.
Damit beginnt der Knoten des Rätsels. Hat nun Pasic die Ausbildung der Attentäter gedeihen lassen, weil er auf Beweise für eine Verwicklung des Apis hoffte? Oder hat er den richtigen Zeitpunkt versäumt, weil das Trio verfrüht abging? Wusste Dimitrijevic von der wahren Rolle des Ciganovic und hat er ihn des halb via Tankosic als Ausbilder eingesetzt? Wusste Apis, dass Pasic wusste? Der Ministerpräsident musste zu Recht fürchten, dass nach einem Attentat bei der Schwärze der „Schwarzen Hand“ die Spuren nach Belgrad und zu seinem Sturz führen würden. Man belauerte einander den ganzen Mai. Pasic konnte einen offenen Hinweis nicht riskieren. Daher ließ er Wien über seinen Gesandten Jovanovic eine heimliche Warnung zukommen. Freilich war der dortige, für Bosnien zuständige Finanzminister Bilinski nicht in der Lage, die Gefahr zu erkennen. Er gab den Inhalt des Gespräches nicht weiter.
Die verschlungenen Wege der Attentäter
In Belgrad wuchs mittlerweile die Zahl der Mitwisser. Daher dürfte Tankosic den Ciganovic gezwungen haben, das mit Armeewaffen gerüstete Trio schon am 28.5.1914 loszuschicken. Mit dem Dampfer fuhren die Attentäter zunächst die Donau aufwärts nach Sabac. Mit der Bahn gelangten sie nach Koviljaca Banja, einem Nachrichtenknoten des Militärs, in dem alle Meldungen aus Bosnien zusammenliefen. Bevor man sich dort trennte, schrieb das Trio Ansichtskarten mit dunklen Andeutungen. Während Plaudertasche Cabrinovic allein nach Süden zog und bei Zvornik die Grenze querte, betraten die beiden anderen über das Schmugglernest auf der Flussinsel Isakovic Ada bosnischen Boden. Man schleppte Faustfeuerwaffen und Bomben im Gepäck, obwohl doch der serbische Superagent für Österreich, Rade Malobabic, im Auftrag des „Apis“ in Bosnien Waffenlager eingerichtet hatte. Die verschlungenen Wege der Attentäter sind verdächtig. Um aus Serbien nach Sarajewo zu gelangen, läuft man nicht im Zickzack an der Drina entlang. Man quert bei Visegrad die Grenze und fährt mit der Schmalspurbahn in die Hauptstadt.
Vor Vertrauten der „Narodna Odbrana“ prahlten die beiden Attentäter mit ihren Waffen. Es wurden sogar Schießübungen abgehalten. Die Wege des Trios sind deswegen bekannt, weil sie in späteren Gerichtsverfahren mit vielen Zeugen rekonstruiert worden sind ist. Bald wurde entlang der Drina geflüstert: Zum Vidovdan würde ein „Feuerregen“ auf den Thronfolger niedergehen. Wie die Hochschüler unter ständiger Verletzung aller Verschwörungsregeln als lärmende Mordpuppen nach Sarajewo zogen, lässt nur einen Schluss zu. Sie sollen es tun, um möglichst bald aufgegriffen zu werden.
Ein verfrühter Abgang der Attentäter
„Apis“ wusste: Ein gelungenes Attentat würde Krieg mit Österreich bedeuten. Dafür war Serbien noch nicht gerüstet. Dimitrijevic hatte über seinen Agenten Rade Malobabic Vorbereitungen zu einem Generalaufstand in Bosnien erst für 1917 getroffen. Es wurden Waffenlager angelegt und Nachrichtenkanäle eingerichtet. Sollte das Attentat ausbleiben oder scheitern, würden die Spuren nicht zu ihm, dem unsichtbaren Drahtzieher, sondern über die hochoffizielle „Narodna Odbrana“ zu Pasic führen. Indes hatte „Apis“ wenig Ahnung von der Unfähigkeit des k. und k. Landeschefs Oskar Potiorek. War es denn möglich, dass der General den Lärm von der Drina überhörte? „Poti“, wie er sich gern nennen ließ, war freilich bis zum Kragenrand mit Terminen eingedeckt. Er wollte sich dem Thronfolger mit rauschhaften Tagen in Bosnien für ein höheres Amt empfehlen. Er war voll beschäftigt mit dem Protokoll, nicht aber mit der Sicherheit: Speisenfolge beim Diner, eine kleine Kapelle im Hotel, Steigbügellänge für den hohen Gast usw.
In Belgrad hatte Pasic sofort vom verfrühten Abgang der Attentäter erfahren. Er suchte sie aufzuhalten. Erhalten geblieben ist der historische „Pasic-Zettel“, auf dem der Premier eilige Anweisung zur Festnahme der Studenten gegeben hatte. Doch es war zu spät. Am 2. Juni trat Pasic überraschend zurück, obwohl er im Parlament die Mehrheit hatte. Er wurde aber geschäftsführend weiter beauftragt. Sein Sturz stand bevor, aber er wurde durch ein Machtwort aus Moskau gerettet. Am 24.6.1914 wurde auch das Parlament aufgelöst: Niemand mehr da in Belgrad?
In diesen Tagen trat auch König Petar als Staatsoberhaupt zugunsten seines Sohnes Alexander zurück. Aus „Gesundheitsgründen“ hieß es, obwohl Petar noch sieben Jahre gelebt hat. Alexander war dem „Apis“ nach der Affäre um seinen Bruder Georg zu Dank verpflichtet. Georg hatte 1909 aus „Versehen“ einen Diener erschossen. „Apis“ wandte die Schüsse zu einem „Unfall“, worauf Alexander Thronfolger wurde und Georg ins Exil gehen musste. Wahrscheinlich haben Alexander und Pasic von der Planung gewusst, nur nicht davon, dass der Anschlag scheitern sollte. Da er aber weiterhin gedieh, soll die Führung der „Schwarzen Hand“ zusammengetreten sein und das Attentat abgesagt haben. Wie aber sollte das Trio erreicht werden?
Eine zweite Garnitur von Attentätern
Die Attentäter waren in Sarajewo von dem Lehrer Danilo Ilic, einem Vertrauter des „Apis“, erwartet worden. Princip nahm Quartier bei Ilic, nicht ohne vorher den amtlichen Meldezettel ausgefüllt zu haben. Ilic hatte in der Zwischenzeit eine zweite Garnitur von Attentätern angeheuert. Vaso Cubrilovic, Zvetko Popovic und Mehmed Mehmedbasic wussten nichts von der anderen Gruppe, übertrafen sie jedoch durch auffälliges Benehmen: Die Waffen hatte Princip in Tuzla bei einem Mann der „Odbrana“ zurückgelassen. Von dort holte sie Ilic nach Sarajewo, wo sich Princip in Künstlerkreisen die Zeit vertrieb. Auswahl und Begehung eines möglichen Tatortes hielt man für unnotwendig. Die Attentäter würden am Kai stehen, um den Konvoi des Thronfolgers mit Schüssen und Granaten einzudecken.
Salutschüsse donnern über Sarajewo. Der Konvoi setzt sich in Bewegung. Die Attentäter werfen ihre Bomben. Nur Potioreks Adjutant Merizzis wird verletzt. Princip wechselt auf die andere Seite des Flusses. Er wartet in der Menge. Eklat vor dem Rathaus. Man will Merizzi im Spital besuchen. Eine neue Route. Der Bürgermeister hat nicht ganz verstanden. Der Chauffeur biegt dann falsch ab. Potiorek ruft: „Halt!“ In einem lächelnden und grausamen Zuspiel lässt die Weltgeschichte den Wagen des Thronfolgers direkt vor Princip zum Stillstand kommen.
*Ergänzende Erläuterung:
Dragutin „Apis“ Dimitrijevic (1876-1917) war 1903 als Offizier an der Ermordung des serbischen Königspaares Alexander und Draga Obrenovic beteiligt. Die Militärs ermöglichten so, dass der exilierte Thronanwärter der Konkurrenzdynastie, Petar Karadjordjevic, neuer König wurde. Die Attentäter bezogen hohe Posten. In den Balkankriegen zeichnete sich Dimitrijevic durch gewagte Manöver und Husarenstücke aus, sodass er zum Chef des Geheimdienstes aufstieg. Auf dem Papier war er die Nr. 6 des Geheimbundes der „Schwarzen Hand“, der Politik und Militär mit Agenten durchsetzt und gegen Österreich gearbeitet hatte. Serbien sollte eine Militärdiktatur und zum „Piemont“ des Balkans werden.
Die genaue Rolle des „Apis“ im Attentat von Sarajewo bleibt ungeklärt. Im Krieg ging er mit der Armee nach Korfu und dann weiter nach Saloniki, wo die Entente eine neue Front aufbaute. Doch sein Netzwerk war zerschlagen. Niemand eilte zu Hilfe, als er wegen eines offenkundig erfundenen Attentats auf König Alexander verhaftet wurde. Nach dem Kriegsende würde „Apis“ zu einer Gefahr werden. Dimitrijevic wurde von einem geheimen Gericht zum Tod verurteilt. Tage später sind er und sein Agent für Bosnien, Rade Malobabic, hingerichtet worden. Die Wahrheit über Sarajewo haben beide mit ins Grab genommen.
Malte Olschewski ist Autor des Geschichtswerkes „Der serbische Mythos“, erschienen 1998 bei Herbig, München.
Fotorechte: Heeresgeschichtliches Museum in Wien
100 Jahre danach! Neue Ausstellung – Eröffnung am 28. Juni 2014
Verweise: