„Die Wirtschaft ist für den Menschen da!“
Spielt Wirtschaft noch die Rolle, die ihr zugeteilt ist, nämlich dem Menschen zu dienen? Lässt sich die inzwischen deutlich fassbare Distanz vieler Menschen zum Kapital bzw. der kalt und unmenschlich wirkenden Wirtschaft verringern und in das reale Leben der Bürger implizieren? Im Gespräch mit Prof. Dr. Dr. Ulrich Hemel, Institut für Sozialstrategie.
„Gesucht wird nach einer Verbindung des Kapitals mit der sozialen und institutionellen Sphäre, die das Leben des modernen Menschen ausmacht. Anders gesagt: Das Verstehen der Erscheinungsformen, der spannungsreichen Verknüpfungen, aber auch der Widersprüche des Kapitals ist Ausgangspunkt, Ziel und Motiv dieses Buches.“
Herr Prof. Hemel, Ihre Publikation trägt den Titel: „Die Wirtschaft ist für den Menschen da.“ Ist das nicht im Prinzip eine Selbstverständlichkeit?
Ja, das ist es, aber diese Selbstverständlichkeit kann wie eine Provokation wirken. Im Alltag erfahren wir oft das Gegenteil: Menschen fühlen sich hilflos und ausgeliefert, sie werden zum austauschbaren Produktionsmittel und nicht in ihrer Würde und Eigenart wahrgenommen. Und dann sieht es so aus, als sei eben der Mensch für die Wirtschaft da und nicht umgekehrt!
Was ist geschehen, wenn sich viele Bürger bzw. Arbeitnehmer in diesen Zeiten so übervorteilt und in Teilen ausgenutzt fühlen und sich die Distanz zum Kapital und zur Wirtschaft deutlich ausweitet?
Überall wo Menschen sich begegnen, gibt es auch Elemente des Marktes. Der Markt ist aber nicht alles, er braucht eine politische und gesellschaftliche Ordnung; er braucht Spielregeln. Ohne solche Spielregeln verkommt die Gesellschaft zur Anstalt für sozialdarwinistische Übungen. Umgekehrt bewirkt die Lähmung von Marktkräften einen riesigen Innovationsstau und allgemein sinkenden Wohlstand. Es geht also um ein Gleichgewicht – und dieses Gleichgewicht haben wir teilweise verloren.
Wer hat versagt? Die Politik, indem sie in den vergangenen Legislaturperioden Maß und Mitte verloren und Lobbyisten aus der Wirtschaft bevorzugt hat?
Es ist zu leicht, hier allein die Politik verantwortlich zu machen. In einer Demokratie kommt diese ja aus der Mitte der Gesellschaft. Und dazu gehört jeder von uns – auch wenn er ökologisch verantwortliche Tierhaltung will und dennoch das billigste Fleisch aus dem Supermarkt kauft. Gerade weil bei jedem einzelnen eine Menge Verantwortung liegt, sehe ich hier auch die Familien und das Bildungssystem in der Pflicht: Denn diese familiären und auch schulischen Prägungen wirken sich letztlich auf jeden Politiker aus.
Der Untertitel Ihrer Publikation lautet: „Vom Sinn und der Seele des Kapitals“. Wie müssen wir uns die Seele des Kapitals vorstellen?
Geld ist eine phantastische Erfindung, um den Tausch von Dienstleistungen und Gütern zu vereinfachen. Kapital ist die geronnene Form von Geld und Vermögen. Weil Geld und Kapital Ausdruck der Symbolfähigkeit des Menschen sind, drücken sie immer auch Beziehungsgeschichten aus: Währungen haben einen Namen, Geld hat eine Geschichte. Kapital gibt es nicht ohne Menschen, die mit ihm umgehen – nach ihren eigenen Bedürfnissen, Ängsten, Zwängen, Lebensgeschichten. Daher gibt es kein „herrenloses“ Kapital – es geht immer auf Beziehungen zurück und ist in sie verstrickt. Diesen Beziehungscharakter des Kapitals meine ich mit dem bildlichen Ausdruck „Seele des Kapitals“.
Sie äußern in Ihrem Buch: „Wertrationale und nutzenrationale Interessen fallen trotz aller Widersprüche langfristig zusammen. Denn Sinn, Bedeutung und soziale Anerkennung sind wesentliche Treiber wirtschaftlicher Tätigkeit, die damit eben immer auch sozial determiniert ist.“
Wertrational geprägt sind Handlungen dann, wenn sie sich vorrangig an unseren Werten ausrichten. Nutzenrational dann, wenn der Nutzen im Vordergrund steht. Menschen wollen aber häufig beides: in Übereinstimmung mit ihren Wertvorstellungen handeln, aber auch den bestmöglichen Nutzen herausschlagen. Kurzfristig kann ich einem Mieter, der mit seinen Zahlungen in Verzug ist, „nutzenrational“ kündigen. Wenn dieser aber selbst nur in einer vorübergehenden Notlage ist, kann es viel besser sein, eine schwere Zeit gemeinsam zu überbrücken und „wertrationa“ Solidarität zu üben. Zahlt der Mieter nach ein paar Monaten seine Mietschulden ab, dann konvergieren „nutzenrationale“ und „wertrationale“ Gründe: Es entsteht kein finanzieller Verlust, und das Mietverhältnis entwickelt sich langfristig. Auch hier kommt die Beziehungsseite von Geld und Kapital zum Ausdruck: Wir wollen mit finanziell geprägten Transaktionen eben sehr häufig auch die soziale Anerkennung durch andere erreichen – sonst gäbe es beispielsweise bestimmte teure Luxusgüter wohl gar nicht.
Ist es in diesen Zeiten nicht eher umgekehrt, indem Wirtschaft sich immer mehr in die Lebensverhältnisse der Menschen drängt, vorschreiben will und das ist alles andere als sozial determiniert?
Das Wort „sozial“ hat hier zwei Bedeutungen. Denn jemand, der reich werden will ohne Rücksicht auf Verluste, sucht nicht zuletzt die „soziale“ Anerkennung durch andere, will dazugehören zum Club der Reichen und Erfolgreichen. Die zweite Wortbedeutung geht in die Richtung guter Lebensverhältnisse für alle. Sie zielt auf politische Gestaltung. Und diese Gestaltung ist häufig nur so gut, wie in der Politik eben auch wirtschaftlicher Sachverstand da ist. Denn nicht jede gut gemeinte Politik führt zu sinnvollen Lösungen: Genau solche Lösungen aber sind einzufordern und im politischen Ringen zu suchen!
Über Jahrzehnte haben wir in Deutschland die soziale Marktwirtschaft präferiert. Praktisch alle Gesellschaftsschichten konnten damit Chancengleichheit genießen und persönlichen Wohlstand erarbeiten. Bricht uns das bewährte Modell zunehmend weg und falls ja, lässt sich das wirklich immer mit zunehmenden Globalisierungsfaktoren begründen?
Die soziale Marktwirtschaft bietet grundsätzlich ein gutes Gleichgewicht zwischen der nötigen Gestaltungsfreiheit in Märkten und dem ebenso nötigen sozialen Ausgleich durch politisch vorgegebene Spielregeln. Die Erschütterung der Glaubwürdigkeit der sozialen Marktwirtschaft ist ein Anzeichen für einen Pendelschlag: Ja, da spielt die Globalisierung sehr wohl eine Rolle.
Mindestens genau so wichtig ist aber eine Besinnung auf die neuen Herausforderungen des 21.Jahrhunderts. Denn im 20.Jahrhundert haben wir letztlich einseitig auf Arbeitseffizienz gesetzt. Nun müssen wir verstärkt auf Ressourceneffizienz achten, also beispielsweise energiesparende Autos, Gebäudedämmung, kreislaufwirtschaftstaugliche Produkte. Gleichzeitig müssen wir die neue soziale Frage auch so nennen, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Denn ein Übermaß an Ungleichheit schafft gesellschaftlichen Stress für alle Beteiligten! Gemeint ist letzten Endes die Neugestaltung einer ökologischen und sozialen Marktwirtschaft!
Wirtschaft soll die von einer Gesellschaft gewünschten Bedarfe decken. Stimmen die zur Umsetzung dieses Anspruchs erforderlichen Rahmenbedingungen noch, wenn Ausgrenzungsprojekte wie etwa „Hartz IV“, Dumpinglöhne, Werkverträge und einiges mehr einen Teil der Bürger in die wirtschaftliche Aussichtslosigkeit drängen?
Ob es richtig ist, hier von Ausgrenzungsprojekten zu sprechen, das sehe ich kritisch. Ich bin viel gereist, auch in Afrika, Lateinamerika und den ärmeren Ländern Asiens. Aus diesem Blickwinkel ist unsere Sozialgesetzgebung sehr wohl und immer noch eine soziale Errungenschaft. Problematisch ist aber die bürokratische Ausgestaltung, die häufig ganz zu recht als menschenunwürdig empfunden wird. Wäre es da nicht sinnvoll, den Kommunen wieder stärkere Rechte zu geben? Denn dort sind die Verhältnisse vor Ort bekannt. Es gibt auch Länder, bei denen soziale Hilfen an die Erfüllung der Schulpflicht betroffener Kinder gebunden sind. – All dies rechtfertigt freilich keine Dumpinglöhne; hier sind gesetzgeberische Maßnahmen ja auf dem Weg.
In Ihrer Publikation präferieren Sie den Weg zu einem ganzheitlichen Kapitalbegriff „in Kombination mit der Anerkennung der Herausbildung einer globalen Zivilgesellschaft, die Grundlage bieten für eine wahrhaft soziale Marktwirtschaft – auch im moralischen Sinne“. Mit welchen Weichenstellungen und Maßnahmen könnte dies gelingen?
Die Bedeutung der Zivilgesellschaft wird unterschätzt. Wir leben in einer Zeit mit Internet und zugänglicher Telekommunikation praktisch für alle. In den Slums von Kenia ist heute eine Ladestation für das Mobiltelefon wichtiger als Strom für die Beleuchtung der eigenen Hütte. Um dieses Beispiel aufzugreifen: Wenn wir als Verbraucher in Deutschland darauf achten, dass unser Mobiltelefon einen herausnehmbaren Akku hat, dann wirkt sich das unmittelbar auf die Wiederverwendung von Rohstoffen, auf die Gewinnung bestimmter Rohstoffe und damit auf die Lebenswirklichkeit von Menschen in weit entfernten Ländern aus.
Wir brauchen also mit anderen Worten Spielregeln für die globale Zivilgesellschaft, angefangen vom Verbraucherverhalten bis hin zu Vorgaben für das Verhalten von Unternehmen und Regierungen. Solche Vorgaben werden unter dem Begriff der Governance zusammengefasst. Transparenz und soziale Balance spielen hier eine besonders wichtige Rolle. Aufgabe des 21.Jahrhunderts wird es sein, eine solche Global Governance für die Zivilgesellschaft und die Unternehmen als ein Teil der globalen Zivilgesellschaft, aber speziell auch für die Regierungen durchzusetzen.
Sie schreiben auch „Die ursprüngliche kapitalistische Transformation ist der Tausch von Geld gegen Träume“. Träume rund um „die gelingende Gestaltung des sozialen Lebens“ sollten nicht vorschnell aufgegeben werden. Wie lässt sich das realisieren, wenn jene, die aufgrund ihrer Position in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik an einer Umsetzung eines solche Anspruchs nur wenig Interesse zeigen?
Wenn wir etwas kaufen, haben wir Erwartungen, die mit uns als Person zu tun haben. Letztlich geht es immer wieder um den Traum vom gelingenden Leben. Und Träume haben einen sozialen Kontext. Wer von 44 Ferraris träumt, darf sich fragen lassen, ob es nicht sinnvollere Träume geben mag. Das wirtschaftliche Geschehen kommt durch diesen Zusammenhang in das Feld der sozialen Gestaltung zurück. Und dies fängt an, Wirkung zu zeigen: Unternehmen sprechen – unterschiedlich glaubwürdig – wieder von „sozialer Verantwortung“.
Fragen der Nachhaltigkeit werden teilweise sogar stärker im Wirtschaftsleben als in der Politik aufgegriffen, auch weil die Politik immer wieder schnell auf das Stimmungsbarometer in der Bevölkerung schielt. Insoweit liegt es schon auch an uns, was in der Politik geschieht. Letztlich ist Politik ein Spiegel der Gesellschaft. Wenn also die Gesellschaft den Anspruch auf eine menschlich gestaltete ökologische und soziale Marktwirtschaft formuliert, wird das mit einer gewissen Verzögerung auch zum Gegenstand politischen Handelns.
Wo sehen Sie unser Land wirtschaftsethisch in zwei- bis drei Jahrzehnten und woraus schöpfen Sie Ihre diesbezüglich positiven (oder ggf. auch negativen) Ausblicke?
Die Widersprüche werden uns nicht ausgehen, auch im Blick auf globale Herausforderungen etwa in China oder im Mittleren Osten. Ich erlebe aber in so vielen Bereichen eine ernsthafte Suche nach einem neuen Gleichgewicht, dass ich eher optimistisch bin. Rein wirtschaftlich wird sich in Deutschland der Fachkraftmangel als Treiber für eine Humanisierung der Arbeitswelt, aber auch für neue Zuwanderung auswirken. Die demographische Wende wird dadurch abgemildert. Der bevorstehende Klimawandel verstärkt die Nachfrage nach umweltfreundlichen technischen und sozialen Lösungen. Dass beide Hand in Hand gehen, das verstehen wir in Europa und in Deutschland besonders gut.
*Prof. Dr. Dr. Ulrich Hemel ist Theologe, Philosoph, Unternehmensberater und Wirtschaftspraktiker und analysiert in seiner Publikation: „Die Wirtschaft ist für den Menschen da“ sowohl positive als auch wenig erhellende Seiten des Kapitalismus.
Die Wirtschaft ist für den Menschen da
Autor: Ulrich Hermel
Gebundene Ausgabe:192 Seiten
Verlag: Patmos Verlag; Auflage: 1 (27. August 2013)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3843603448
ISBN-13: 978-3843603447
Preis: 19,99 Euro
*Vita Prof. Dr. Dr. Ulrich Hemel
Geboren 1956 in Bensheim, Abitur 1974 in Worms, Studium der Kath.Theologie, Philosophie, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften in Mainz und an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom (lic.rer.soc.), Promotion (1983, „summa cum laude“) und Habilitation (1988) in Regensburg, dort bis heute apl.Prof. für Religionspädagogik; anschließend Tätigkeiten als Unternehmensberater (The Boston Consulting Group), Manager (u.a. Vorstandsvorsitzender Paul Hartmann AG) und Unternehmer (Strategie und Wert GmbH, Rogg Verbandstoffe, Tacon Decor SL). Seit 2001 Vorstandsvorsitzender „Forschungsinstitut für Philosophie in Hannover“; 2009 Gründung Institut für Sozialstrategie (Berlin-Jena-Laichingen) mit dem Ziel „Impulse für die globale Zivilgesellschaft mit den Schwerpunkten Bildung, Ernergetische Nachhaltigkeit, Globale Ethik, Migration und Rechte von Minderheiten“.