Gerard Boekenkamp


Ohne Meinungsfreiheit keinen Fortschritt

Meinungsfreiheit ist ein wirklich zivilisatorischer Fortschritt. Doch erst dann, wenn wir uns dafür einsetzen, dass Meinungen frei geäußert werden dürfen, die uns selbst zuwider sind oder die wir sogar als verwerflich empfinden, zeigen wir, dass Meinungsfreiheit für uns tatsächlich eine Bedeutung besitzt. Eine Betrachtung von Dr. Gérard Bökenkamp.

(Foto: kenishirotie / Clipdealer.de)

Oftmals bestimmt der Zeitgeist die Meinung. (Foto: kenishirotie / Clipdealer.de)

Es gibt drei Arten von Meinungsäußerungen: Erstens: Meinungen, die wir teilen und die uns sympathisch sind. Zweitens: Meinungen, die uns egal sind und die uns gleichgültig lassen. Drittens: Meinungen, die uns auf die Palme bringen, die uns wütend machen oder die wir schlicht unerträglich finden. Es ist unsere Einstellung zu dieser dritten Kategorie, die darüber entscheidet, welchen Stellenwert die Meinungsfreiheit für uns besitzt.

Wenn wir uns für die Freiheit von Meinungen einzusetzen, die wir selbst teilen, dann heißt das lediglich, dass wir uns eigentlich für uns selbst und unsere eigenen Interessen einsetzen. Wenn wir uns für die Freiheit von Meinungen einsetzen, die uns gleichgültig lassen, kostet uns das wenigstens keine große Überwindung. Erst wenn wir uns dafür einsetzen, dass Meinungen frei geäußert werden dürfen, die uns selbst zuwider sind oder die wir sogar als verwerflich empfinden, zeigen wir, dass Meinungsfreiheit für uns wirklich eine Bedeutung besitzt.

Evelyn Beatrice Hall hat in ihrer Voltaire-Biographie das Ideal der Meinungsfreiheit so beschrieben:

„Ich missbillige, was du sagst, aber würde bis auf den Tod dein Recht verteidigen, es zu sagen.“

Das Recht auf Meinungsfreiheit auch dann zu verteidigen, wenn wir die, deren Meinungsfreiheit bedroht ist, nicht mögen oder vielleicht sogar verabscheuen, ist ein wirklicher zivilisatorischer Fortschritt. Es hat lange gedauert, bis der Gedanke aufkam, dass nicht die Macht, die Überlieferung oder der Glaube darüber entscheiden, ob eine Meinung richtig oder falsch ist, sondern die Argumente.

Der britische Philosoph John Stuart Mill erklärte zu Recht:

„Wenn man sich weigert, eine Meinung anzuhören, weil man sie von vornherein für falsch hält, so bedeutet dies, dass man sich anmaßt, die eigene Gewissheit für eine absolute Tatsache zu halten. Jedes Unterbinden einer Erörterung ist eine Anmaßung von Unfehlbarkeit.“

Oft heißt es, Meinungen dürften eben nicht die Gefühle der Mitmenschen verletzen. Dann hätte Galileo Galilei nie erklären dürfen, dass die Erde um die Sonne kreist, die Evolutionstheorie von Charles Darwin hätte nie gelehrt werden und die Psychoanalyse von Freud nie beschrieben werden dürfen. Wir müssten den David von Michelangelo bedecken, die Genetik verbieten und dürften nicht über die Ursprünge der Religionen forschen.

Diejenigen, die die Einschränkung der Meinungsfreiheit fordern, gehen natürlich davon aus, dass die Meinungen der anderen verboten werden sollten und nicht ihre eigenen. Sie sehen nicht, dass sich das Blatt auch wenden kann. Vielleicht empfindet die Gesellschaft in Zukunft andere Meinungen als falsch und anstößig als heute. Und vielleicht gehört ihre Meinung dazu. Meinungsfreiheit ist zu wichtig, als sie der Willkür der Regierenden zu überlassen.

Darum sind ein möglichst weitgehender Schutz der Meinungsfreiheit in der Verfassung und eine breite Unterstützung für das Prinzip der Meinungsfreiheit unabhängig von ihrem konkreten Inhalt in der Gesellschaft im wohlverstandenen Selbstinteresse aller.